Feuilleton.
Zum Prozess Wilde.
London, 5. April.

Die Mänaden zerrissen Orpheus wegen Vergehens gegen § 175 des Strafgesetzbuches für das deutsche Reich. Die Träger der öffentlichen Meinung haben, obwohl die Gerichte noch nicht definitiv ihr Urtheil über Oskar Wilde, den Orpheus der Decadence Englands, gesprochen, ihn ebenfalls bereits zerrissen und ihn aus denselben Gründen moralisch wie gesellschaftlich zu tödten gesucht, aus denen es dem armen Ursänger schlecht gegangen ist. Auch literarisch such man Wilde nunmehr umzubringen. Diesseits und jenseits des Oceans stehen Stücke Wildes auf dem Repertoir. Hier in London giebt man gleichzeitig auf zwei verschiedenen Theatern: „An Ideal Husband” und „The Importance of Being Earnest”. Die Vorstellungen waren gestern wie vorgestern sowohl im Haymarket wie im St. James Theater gut besucht und verliefen ohne jede feindliche Demonstration gegen den angeklagten Dichter. Aber draußen auf dem Theaterzettel war auf Veranlassung der Direktoren der Name des Verfassers schwarz überpinselt, --- schwarze Flagge, die in England gezogen wird, wenn der Henker die Deliquenten vom Brett gestoßen und er sich in der Luft todt zappelt. In Amerika hat man, wie uns der in dieser Angelegenheit für meinen Geschmack allzu heftig arbeitende Telegraph meldet, Aehnliches unternommen und eine Theaterdirektorin hat sogar „A Woman of Importance” von dem Spielplan ihres Theaters abgesetzt. Das wird ja nun, wenn wirklich etwas in den Wildeschen Arbeiten steckt, nicht hindern, daß sein Name, trotz des bürgerlichen und moralischen Todes des Trögers, in der Mitwelt und in der Nachwelt weiter leben wird, wie die eines Sokrates, eines Artistoteles eines Byron, eines Platon weiter gelebt haben. Das Moralische versteht sich immer von selbst, und darum war der Prozess gegen den gefallenen Mann auf den Theaterzettel eine überflüssige Demonstration, da Wilde, der Literat, ganz und gar nichts mit Wilde dem Menschen, zu thun hat. In mehreren Blättern findet man der voraussichtlichen Bestrafung Wildes eine Sühne für die Schändung unserer modernen Literatur überhaupt und jubelt darüber, daß ? Der Bestrafung die Modernen von der Weiterverfolgung ihrer eingeschlagenen Richtung abgeschrreckt werden würden. Man schließt, um Wilde persönlich moralisch verkommen, so müßten auch ale Literaten seiner Richtung verkommen sein und sich in der Scham ihrer ? nicht weiter an das Tageslicht wagen. Wir brauchen nicht erst nachzuweisen, daß dies ein Trugschluß ist. Man kann auch nicht einmal davon sprechen, daß der Prozeß Wilde die Verworfenheit er oberen Stände in England wiederspiegele. Das Leben der großen Städte zeitigt, namentlich in Kreisen, die den Genuß a tout prix, selbst um den der Selbstachtung auf ihre Fahne geschrieben haben, derartige scheußliche Laster, wie sie Wilde eigen waren. Dieselben sind selbst durch die Schärfe des Gesetzes nicht auszurotten. Sie existiren in Wien wie in Berlin, in Paris wie in Petersburg. Typisch für die Londonder Gesellschaft ist der Fall nicht, wennschon es hier mehr Entnervte als in vielen anderen Städten giebt, da der reiche junge englische Edelmann nicht die ernste Arbeit kennt und nur dem Genuß lebt. Bei Wilde trifft der Vorwurf der Trägheit nicht zu. Aus ihr sind seine sträflichen Neigungen schwerlich hervorgegangen. Er hat stets gearbeitet, er war fleißig. Kein Jahr verging, ohne daß er der Bühne mindestens ein und meist interessantes Stück, wenn auch meist mir einer laxen Moral lieferte. Wir glauben bei Wilde daher vielmehr an eine krankhafte Belastung. Wilde ist auch noch nicht so alt, daß wir sein laster als die Ausgeburt eines eintretenden Senilismus ansehen können. Er ist krank. Sein Auftreten in dem Verleumdungs-Prozeß, die Thatsache selber, daß er denselben angestrengt hat, legen die Ansicht nahe, daß wir es mit einem Maniak zu thun haben. Schon nach dem ersten tage der Verhandlung mußte er erkennen, daß seine Sache verloren war. Er entfloh nicht, er blieb, weil er für die Tragweite seiner That gar kein Verständiß hat. Er hat auch selbst dann nicht den Versuch der Flucht gemacht, als Lord Queensberry freigesprochen wurde, und er erfuhr, daß gegen ihn die Staatsanwaltschaft einschreiten würde. Der Versuch der Flucht im letzten Augenblicke wäre ihm freilich schwerlich gelungen, da er von den Queensberryschen Privat- Detectivs dauernd beobachtet wurde.

Wenn das Publikum sich zu dieser milderen Auffassung in der Beurtheilung Wildes bekehren würde, dann würde die Judiguation gegen ihn vielleicht weniger groß sein. Der Wildesche Fall ist meiner Ansicht nach viel eher ein solcher für Beobachtung in einer Irrenanstalt als für Bestrafung in einem Gefängniß.

Das Beklagenswerthe ist, daß Wilde verheiratet ist und zwei Kinder hat. Die Frau muß jahrelang geduldet und geschwiegen haben um des Namens ihrer Kinder willen. Sie muß ein Engel von Güte und treuer Mutterpflicht Erfüllung sein. Aber alle ihre Diskretion hat nichts geholfen. Der Tag furchtbarer Rache ist ohne ihr Zuthun gekommen.

Und da kommen wir nun auf die Individuen in dem Prozeß, deren Thun und Treiben allerdings helle Streichflichter auf die traurigen Familienverhältnisse in der englischen Aristokratie wirft. Wie meinen Lord Queensberry und seinen Sohn Baron Alfred Douglas. Weder der Vater noch der Sohn genießen großes Ansehen in der Gesellschaft. Ersterer ist von seiner ersten Frau geschieden, und eine zweite Ehe wurde auf Forderung der Frau für null und nichtig erklärt. Für seine Empfindungswelt mag der Umstand einen Maßstab bieten, daß er als der Verfasser der von den professionellen Boxern angenommenen Regeln für den Ring gilt. Seit Jahren sah er seinen Sohn, der seine Karriere in Oxford aufgegeben hatte, ohne es zu einem Abschluß zu bringen in den Händen Wildes, dessen Lebensführung in schriftstellerischen und Theaterkreisen kein Geheimniß war. Erblickte er in diesen Beziehungen einen seinem dreihundertjährigen Adelsschild angethanenen Schimpf? Oder wollte er wirklich seinen Sohn aus der Lasterhöhle retten? Er führte den Schlag, wie es des Verfassers des Boxer-Codex würdig, mitten in das Gesicht der öffentlichen Meinung, indem er den trotz seiner verächtlichen Sitten viel umschwärmten Dichter, in dessen Gesichtsausdruck mich übrigens Vieles an die Physiognomie des unglücklichen verstorbenen Königs Ludwig von Baiern erinnert, eines Vergehens bezichtigte, welches die Gesetze mit schwerer Strafe und die öffentliche Meinung mit Verachtung belegt. Der Marquis weiß, daß er damit seinen Sohn kompromittiert, einen 25jähren Burschen, dem allerdings jedes moralische Empfinden und jedes Pietätsgefühl abgeht. Dennoch unternimmt er den Schritt mit dem Erfolge, den wir kennen. Ob aber Baron Douglas nicht noch dasselbe Geschick ereilt wie Herrn Wilde, ist noch nicht ausgemacht, dann hätte freilich Lord Queensberry wohl weit über das verfolgte Ziel hinausgeschossen, und der Applaus seiner Freunde nach Beendigung des Beleidigungs-Prozesses dürfte ihn schwerlich für diese Eventualität entschädigen.

Das indiguirte Publikum folgt dem Prozesse mit der Gier eines Assasötida-Treffers, der Bandwurm der Entrüstung geht danach kolonnenweise ab. Tant, Tant nichts als Tant.

feuilleton.
On the Wilde trial.
London, April 5th.

The Maenads tore Orpheus apart for violating Section 175 of the Penal Code for the German Empire. The leaders of public opinion, while the courts have not yet finally passed their verdict on Oskar Wilde, the Orpheus of England's decadence, have also already torn him to pieces and sought to kill him, morally and socially, for the same reasons that made the poor Ursinger ill has gone. In literature, too, attempts are now being made to kill savages. Wild pieces are on the repertoire on both sides of the ocean. Here in London they are performing at two different theaters at the same time: "An Ideal Husband" and "The Importance of Being Earnest". The performances were well attended both yesterday and the day before, both in the Haymarket and in the St. James's Theater, and passed without any hostile demonstration against the accused poet. But outside on the playbill, at the instigation of the directors, the author's name was painted over in black----the black flag that is raised in England when the hangman pushes the delinquents off the board and he wriggles himself to death in the air. In America, according to the Telegraph, which for my liking is working too hard on this matter, something similar has been done and a theater director has even removed "A Woman of Importance" from her theater's repertoire. If there is really something in Wilde's work, that will not prevent his name from living on in the world and in posterity, in spite of the bourgeois and moral death of the fool, like that of a Socrates, an Artistoteles or a Byron , a Plato lived on. The moral is always self-evident, and that is why the trial of the fallen man on the playbill was a superfluous demonstration, since Wilde, the man of letters, has absolutely nothing to do with Wilde the man. In several pages one finds an atonement for the probable punishment of Wilde for the desecration of our modern literature in general and rejoices that ? The punishment would deter the moderns from continuing in their chosen direction. One concludes that Wilde is personally morally degenerate, so all writers of his direction must also be degenerate and in the shame of their ? dare not go further into the light of day. We don't need to show that this is a fallacy. One cannot even say that the Wilde trial reflects the depravity of the upper classes in England. The life of the great cities, especially in circles which have written pleasure a tout prix, even for the sake of self-respect, on their banner, produces such hideous vices as were peculiar to savages. They cannot be eradicated even by the harshness of the law. They exist in Vienna as in Berlin, in Paris as in Petersburg. The case is not typical of London society, although there are more unnerved people here than in many other cities, since the rich young English nobleman does not know serious work and lives only for pleasure. In the case of Wilde, the accusation of inertia does not apply. His criminal inclinations hardly arose from it. He always worked, he was diligent. Not a year went by without him providing the stage with at least one play, most of which was interesting, even if mostly with lax morals. We therefore rather believe that Wilde is suffering from a disease. Wilde is also not so old that we can regard his vice as the product of an emerging senilism. He is sick. His appearance in the slander suit, the very fact that he instituted it, suggests that we are dealing with a maniac. Already after the first day of the hearing he had to recognize that his cause was lost. He didn't flee, he stayed because he has no understanding of the consequences of his deed. Even after Lord Queensberry was acquitted, he did not attempt to flee and was told that the Public Prosecutor would take action against him. He would hardly have succeeded in trying to escape at the last moment, since he was constantly being watched by Queensberry's private detectives.

If the public were to adopt this milder view of judging Wilde, then perhaps the judiciary against him would be less great. The Wilde case is, in my view, much more one of observation in an insane asylum than punishment in prison.

The unfortunate thing is that Wilde is married and has two children. The woman must have tolerated and kept silent for years for the sake of her children's names. She must be an angel of goodness and faithful maternal fulfillment. But all their discretion did not help anything. The day of terrible revenge has come through no fault of her own.

And now we come to the individuals in the trial, whose doings and doings throw bright pranks on the sad family relationships in the English aristocracy. Like my Lord Queensberry and his son Baron Alfred Douglas. Neither the father nor the son are held in high esteem in society. The former is divorced from his first wife and a second marriage was declared null and void at the wife's request. The fact that he is credited with being the author of the rules for the ring adopted by professional boxers may provide a measure of his emotional world. For years he saw his son, who had given up his career at Oxford without completing it in the hands of Wildes, whose conduct in literary and theatrical circles was no secret. Did he see in these relations an insult to his three-hundred-year-old shield of nobility? Or did he really want to save his son from the den of vices? He struck, as befits the author of the Boxer Codex, right in the face of public opinion by slandering the poet, who was much admired despite his contemptible manners, and whose facial expression reminded me a lot of the physiognomy of the unfortunate deceased King Ludwig von Bavaria recalled, accused of an offense which inflicts severe punishment on the law and contempt on public opinion. The Marquis knows that in doing so he is compromising his son, a 25-year-old boy who lacks any sense of morality or piety. Yet he takes the step with the success we know. But whether Baron Douglas will not meet the same fate as Mr. Wilde is not yet certain, in which case Lord Queensberry would certainly have overshot the goal pursued, and the applause of his friends after the end of the insult process would hardly compensate him for this eventuality.

The indignant audience follows the process with the greed of an Assasötida hit, the tapeworm of indignation then goes off in columns. Tant, tant nothing but tant.

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