Die grüne Nelke.

(Proceß Oscar Wilde.)

London, 5. April

Vor ungefähr Jahresfrist erschien hier bei Heinemann, einem der vornehmsten englischen Verleger, eine Novelle mit dem curiosen Titel: „The green Carnation” („Die grüne Nelke”). Ein colorirtes Deckblatt ließ das Werkchen sofort als Satire erscheinen und, soweit wenigstens der Titel in Betracht kam, wußte jedes Kind, was gemmeint war. Der Champion der allermodernsten Moderne, der decadentesten Decadence, des findesieclesten Findesiecle, kurz Oscar Wilde, hatte einige Zeit vorher die grüne Nelke erfunden und in der besten Gesellschaft zur Mode gemacht. Es braucht kaum erst gesagt zu werden, daß die grüne Nelke ihre Farbe nicht der Natur, sondern dem Chemiker verdankte; denn eben in der Abneigung gegen alles Natürliche, in der Proclamirung einer Alleinherrschaft der Kunst oder besser des Künstlichen manifestirte sich jener Glaube, dessen Prophet Oscar Wilde war. Die Novelle, von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, las sich in verhältnißmäßig harmlosem Sinne, ohne doch für einen Augenblick uninteressant zu sein und ein Blatt, so wenig philiströs wie »Daily Telegraph«, sagte von dem Buche, daß es „eine der glänzendsten Proben modernen Humors sei, die seit Langem vor’s Publicum gekommen” wären. Wie weit sich der volle Sinn des Buches erstreckte, wußten also nur wenige. Die Novelle erschien anonym. Eine Controverse über die Autorschaft führte vor einigen Monaten zu der Demaskirung des Verfassers, eines Staatsbeamten Namens Hitchen, der bis dahin literarisch nicht hervorgetreten war und erst später zum Nachfolger G. B. Shaw’s in der Musikritik der »World« ernannt wurde. Eine Zeit lang war man in der Schätzung des Selbstehnismus Oscar Wilde´s so weit gegangen, ihm selbst die Autorschaft der „Green Carnation” zuzuschreiben, obwohl oder vielmehr eben weil seine Eigenheiten darin mit geradezu photographischer Genauigkeit wiedergegeben erschienen. Jene kleine Clique freilich, die um den vollen Sinn der Novelle wußte, und vor allen Andern Wilde selbst mußte diese Annahme wunderlich anmuthen, denn die „Green Carnation” war ihnen nicht blos die getreue Satire einer Richtung der Kunst eines Styles, sondern ein menschliches Document weit tieferer Art, das Document einer classischen Sünde, für die es keine Renaissance gibt. Dieses Buch ähnelte jenen Bildern, die von verschiedenen Seiten verschiedene Anblicke bieten. Wilde und dem kleinen Kreise Wissender mußte es eine Geschichte erzählen, für welche die Andern kein Begreifen hatten, weil ihnen die Begriffe fehlten. „The green Carnation” stellt unter Pseudonymen zwei Leute in ihren Vordergrund, deren Alltagsnamen heute im Munde jedes Gassenjungen sind, Oscar Wilde und Lord Alfred Douglas.

Auf Seite 4 des Buches findet sich folgende Stelle: „Erst heute Morgens hatte er (Lord Reginald Haftings) eine lange, heftige Diatribe von seinm Vater erhalten, die ihm alles Möglcihe sagte und ihn aufforderte, ein andständiges Leben zu führen. Er hatte telegraphisch geantwortet: „Was Du doch für ein komischer kleiner Mann bist (What a funny little man you are) – Reggie.” Am zweiten Tage des Processes Wilde-Queensberry wurde unter anderen Beweisstücken ein Schreiben des Marquis von Queensberry an seinen Sohn Alfred verlesen, auf welches die Beschreibung, „eine lange Diatribe u.f.f.”, wie ein Thaler auf den andern paßt. Der Brief war gezeichnet: „Dein degoutirter sogenannter Vater (You disgusted so-called futher) Queensberry.” Und darauf hatte Lord Alfred Douglas seinem Vater telegraphirt (Depesche auf den Gerichtstisch niedergelegt): „Was Du doch für ein komischer, kleiner Mann bist (What a funny little man you are) – Alfred Douglas.” Der Autor der „Green Carnation” muß in der That recht wohl gewußt haben, was er schrieb. Kein Beispiel von seiner Actentreue ist schlagender, aber man müßte viele Seiten des buches vopiren und neben die Protokolle der Gerichtsverhandlung stellen, wollte man seine Rechtfertigung als Historiker auch nur annäherungsweise erschöpfen. Die Genauigkeit erstreckt sich bis in die einzelnen Sätze des Dialoges hinein und aus mehr denn einer frappanten Congruenz zwischen dem, was man aus Amarinth´s Munde im Buche und aus Wilde´s in Old Bailey hörte, läßt sich der sichere Schluß auf den bleibenden Werth der „Green Carnation” als einer geschichtlichen Veröffentlichung ziehen. Das Verdienst des Autors wird dadurch keineswegs in den Hintergrund gedrängt. Seine Geschichtschreibung ist von keinem geringeren Werthe als die von Strömungen und Ereignissen im politischen Völkerleben, und wenn er auch auf den Lorbeer eines täuschenden Imitators verzichten muß (denn alle Oscarismen des Buches scheinen wirkliche Oscarismen zu sein, die er sorgfältig sammelte), so bleibt ihm doch auch nach der literarischen Seite hin ein großes Verdienst; es ist ihm gelungen, Jedem etwas und doch nicht Allen Alles zu sagen.

Nun da die Person und die Sache vor die Schranken des Strafgerichtes gekommen sind, ist die „Green Carnation” kein Schlüsselwerk mehr und die Andeutungen müssen den Facten weichen. Ein Passus jedoch ist so bemerkenswerth, daß es auch jetzt noch verlohnt, ihn seiner ganzen Länge nach anzuführen; er gibt den Gegenstand in eienr Nußschale. Lady Locke, die einzige ganz gesunde Person der Novelle, Witwe eines Officiers, wird vom jungen Lord Reggie um ihre Hand gebeten, nicht weil er sie liebt, sondern weil ihm das Heiraten, als Absurdität erscheint, Grund genug, es zu versuchen. Ursprünglich zu dem zarten Wesen des Jünglings hingezogen, fühlt sich ihm Lady ganz und gar unlogisch ist. Oder aber sie sympathisiren wirklich mit den Reactionären, dann erscheint ihr Liberlaismus als Heuchelei und ihre vermeintliche Unzufriedenheit mit der liberalen Partei als eine hohle Phrase. Das ist der Stand der Sache. Ein Drittes gibt es nicht.

So macht man es bei uns. Anstratt sich in den großen Principienfragen zusammenzufinden, opfert man die letzteren um einseitiger Bedenken willen, wie ein werthloses Object, und bleibt entweder in kühler Zurückgezogenheit oder läuft gar in das Lager über, dessen Gesinnungen gerade die entgegengesetzten sind. Angesichts eines solchen politischen Zustandes muß man, wenn auch bewegten, soch doch getrösten Herzens hinausblicken über die vaterländischen Grenzen, um zu sehen, wie sich anderswo, kaum daß ein reactionärer Gedanke überlaut wird, sich sofort eine Phalanx der Abwehr bildet und wie nicht Stellung, nicht Alter, nicht sonstige Parteidifferenzen den Zusammenschluß der fortschittlichen Elemente hindern. Der Director der „Revue de deux Mondes”, Herr Brunetiere, war ja in aller Mund, da er von seiner Romfahrt zum Papste die Ueberzeugung mitzubringen vorgab, daß die Wissenschaft Bankerot gemacht habe. Diese unerhörte, offene Verkündigung einer reactionären Gesinnung ersten Ranges ist dem Autor aber schlecht bekommen. Die Leser haben es aus unserem gestrigen Abendblatte erfahren, wie die ersten Männer der Republik bei dem von den Freidenkern zu Ehren des Chemikers Berthelot veranstalteten Banket den Standpunkt der Freiheit vertheidigten, wie selbst Brisson, der greise Präsident der Kammer, erschienen war, um den „Bankerot der Wissenschaft” als politische Parole des Clericalismus zu brandmarken. Er, der wahrhaftig zu den „Vorgeschittensten” gehört, er hat nicht erst gefragt, was die Vertreter der liberalen Ideen geleistet haben oder nicht, sondern ist sofort zur Vertheidigung dieser Ideen, sobald er sie angegriffen sah, eingetreten. Mögen sie sich ein Beispiel nehmen, unsere Progressisten, unsere jüngeren Politiker, wie man mit unerschütterlicher Treue zu den großen Grundsätzen hält und wie man alle anderen Wünsche und Weltverbesserungspläne beiseite setzen muß, wenn es den von allen Parteidifferenzen unabhängigen Kampf gegen die Gegner der Freiheit gilt. Mögen sie sich ernstlich fragen, was bei uns auf dem Spiele steht und dann sich selbst danach beurtheilen. Kurz und klar ist die Formel des Liberalismus. Blos auf der Zunge getragen wird sie werthlos. Indem sie Anderen diesen Vorwuf machen, es aber dabei bewenden lassen, ja den Schein des directen Gegensatzes auf sich laden, gerathen sie in einen unlösbaren Widerspruch mit ihren vorgegebenen Principien.

The green carnation.

(Process Oscar Wilde.)

London, April 5th

About a year ago, Heinemann, one of the foremost English publishers, published a novella with the curious title The Green Carnation. A colored cover page made the little work immediately appear as satire, and as far as at least the title was concerned, every child knew what was meant. The champion of the most modern modernity, the most decadent decadence, the most ingenious findsiecle, Oscar Wilde for short, had invented the green carnation some time before and made it fashionable in the best of society. It need hardly be said that the green carnation owes its color not to nature but to chemists; for precisely in the aversion to everything natural, in the proclamation of the autocracy of art, or rather of the artificial, was that belief manifested whose prophet Oscar Wilde was. The novella, viewed from this point of view, read in a comparatively harmless sense, without being for a moment uninteresting, and a paper as unphilistine as The Daily Telegraph said of the book that it was "one of the brightest specimens of modern times." humor that has come before the public for a long time”. So how far the full meaning of the book extended few knew. The novella was published anonymously. A controversy over authorship led a few months ago to the unmasking of the author, a civil servant named Hitchen, who had not previously been prominent in literature and was only later named GB Shaw's successor in the music review of The World. For a time, the estimation of Oscar Wilde's selfishness had gone so far as to ascribe to him the authorship of The Green Carnation, although, or rather because, his peculiarities appeared therein to be rendered with almost photographic accuracy. That small clique, of course, who knew the full meaning of the novella, and above all Wilde himself, must have found this assumption strange, because the "Green Carnation" was not just the faithful satire of a direction in art of a style, but a human document of a far deeper kind, the document of a classic sin for which there is no renaissance. This book was like those pictures that offer different views from different sides. Wilde and the small circle of those who knew it had to tell a story which the others could not understand because they lacked the concepts. “The Green Carnation” puts two people in the foreground under pseudonyms whose everyday names are on the lips of every street urchin today, Oscar Wilde and Lord Alfred Douglas.

On page 4 of the book is the following passage: 'Only this morning he (Lord Reginald Haftings) had received a long, violent diatribe from his father, telling him everything possible and urging him to lead a decent life. He had telegraphed in reply, "What a funny little man you are - Reggie." On the second day of the Wilde-Queensberry trial, among other items of evidence, was read a letter from the Marquis of Queensberry to his son Alfred, to which the description, "a long diatribe uff," fits like a thaler on the other. The letter was signed: "You disgusted so-called futher Queensberry." And thereupon Lord Alfred Douglas had telegraphed his father (dispatch placed on the court table): "What a funny little man you are - Alfred Douglas." Indeed, the author of Green Carnation must have known quite well what he was writing. No example of his fidelity to the record is more striking, but many pages of the book would have to be rehearsed and placed alongside the minutes of the trial if one were to even begin to exhaust his justification as a historian. The accuracy extends into the individual sentences of the dialogue and from more than a striking congruence between what one heard from Amarinth's lips in the book and from Wilde's in the Old Bailey, the safe conclusion about the lasting value can be drawn the "Green Carnation" as a historical publication. The merit of the author is in no way pushed into the background. His historiography is of no less value than that of currents and events in the political life of nations, and if he must renounce the laurels of a deceptive imitator (for all the Oscarisms of the book appear to be real Oscarisms, which he carefully collected), he remains but also from the literary side a great merit; he has managed to say something to everyone and yet not everything to everyone.

Now that the person and the cause have come before the bar of the criminal court, Green Carnation is no longer a key work and hints must give way to facts. One passage, however, is so remarkable that even now it is worth citing it in its entirety; he puts the object in a nutshell. Lady Locke, the only sane person in the novella, widow of an officer, is asked for her hand by young Lord Reggie, not because he loves her, but because marriage seems absurd to him, reason enough to try. Originally attracted to the youth's delicate nature, Lady feels it is utterly illogical. Or else they really sympathize with the reactionaries, in which case their liberalism appears as hypocrisy and their alleged dissatisfaction with the liberal party as an empty phrase. This is the state of affairs. There is no third party.

That's how we do it. Instead of getting together on the great questions of principle, one sacrifices the latter for the sake of one-sided scruples, like a worthless object, and either remains in cool seclusion or even runs over to the camp whose sentiments are exactly the opposite. In view of such a political situation, one must look beyond the borders of one's country, albeit with an agitated heart, to see how, as soon as a reactionary thought becomes loud, a defensive phalanx forms immediately and how not a position neither age nor other party differences prevent the progressive elements from uniting. The director of the Revue de deux Mondes, M. Brunetiere, was on everyone's lips because he pretended to bring with him the conviction from his trip to Rome to see the Pope that science had gone bankrupt. This outrageous, open proclamation of a reactionary sentiment of the first order, however, didn't go down well with the author. The readers learned from yesterday's evening paper how the leading men of the Republic defended the standpoint of freedom at the banquet organized by the freethinkers in honor of the chemist Berthelot, how even Brisson, the aged President of the Chamber, appeared to " Bankerot der Wissenschaft” as the political slogan of clericalism. He, who is truly among the "most advanced," did not first ask what the advocates of liberal ideas had or had not done, but immediately took up the defense of these ideas as soon as he saw them attacked. May they set an example, our progressives, our younger politicians, how to hold with unshakable fidelity to the great principles and how to set aside all other desires and plans for the betterment of the world when it comes to fighting the opponents of freedom regardless of party differences . May they ask themselves earnestly what is at stake with us, and then judge themselves accordingly. The formula of liberalism is short and clear. Merely worn on the tongue, it becomes worthless. By reproaching others for this, but letting it go at that, even giving themselves the appearance of direct contradiction, they fall into an insoluble contradiction with their stated principles.

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